Steve Guerdat liebt klare Aussagen. Auch wenn es unbequem wird. Nach seinem Sieg beim Rolex Grand Prix in Calgary vergangene Woche ist der Schweizer Spitzenreiter der Live-Contender für den Rolex-Grand-Slam und damit auch einer der Favoriten für den Rolex Grand Prix beim CHIO Aachen am Sonntag. spring-reiter.de hat mit dem frisch gebackenen Mannschafts-Europameister über seine Chancen am Sonntag gesprochen, darüber, wie er mit Niederlagen umgeht, über die Konsequenzen nach den Olympischen Spielen, die Risiken der Globalisierung des Springsports und über seine Familie.
Wie geht es dem Rolex-Marken-Botschafter Guerdat nach dem großen Sieg in Calgary und einer Mannschaftsgoldmedaille für die Schweiz bei der EM in Riesenbeck?
„Ich bin gerade total happy. In Calgary zu gewinnen, diesem Sieg bin ich schon mein ganzes Reiterleben hinterhergelaufen. Es ist ein absoluter Klassiker in unserem Sport und ich habe immer davon geträumt, dort zu gewinnen. In Calgary und Aachen zu siegen, ist beinahe auf einer Ebene mit einer Goldmedaille bei Olympia. Calgary ist sicher eines der schwersten Turniere in unserem Sport. Ich hatte bisher immer Probleme, dort erfolgreich zu sein, es war irgendwie immer außerhalb meiner Komfort-Zone. Die Pferde, die ich normalerweise reite, sind sehr vorsichtig, vielleicht aber nicht mit dem allerletzten Vermögen ausgestattet. Aber das brauchst Du in Calgary. Deshalb habe ich lange gedacht, ich könnte dort nicht gewinnen. Ich hatte auch immer Diskussionen mit den Parcours-Designern in der Vergangenheit. Ich habe die Schuld dann beim Parcoursbauer gesucht, warum ich nicht erfolgreich war. Diese Einstellung musste ich überwinden. Vor zwei Jahren habe ich mal den Sommer dort verbracht, damit sich meine Pferde und ich mehr an diese Umgebung und die Parcours gewöhnen, wir uns in Calgary verbessern. Dieser Ausflug hat sich auf jeden Fall gelohnt.“
Etwas schade findet die aktuelle Nummer zehn der FEI Weltrangliste, dass Aachen so kurz nach Calgary stattfindet. „Ich bin jetzt der Rolex Grand Slam Live Contender, aber am Sonntag kann schon wieder alles vorbei sein. Der Gewinner am Sonntag wird der neue Rolex Grand Slam Live Contender sein. Also habe ich nicht so viel Zeit, diese Situation als Führender der Serie zu genießen.“ Es sei denn, er gewinnt…aber daran mag Guerdat noch nicht denken. Mindestens 15 Reitern traut er den Sieg in der Aachener Soers ebenfalls zu.
Ist Calgary schwerer als Aachen?
„Calgary ist ganz anders als Aachen. Und das finde ich auch gut so. Auch weil sich die internationalen Turniere doch immer mehr angleichen, insbesondere in Europa immer häufiger die gleichen Hindernisse stehen, dieselben Parcours-Designer aufbauen. Das finde ich persönlich sehr schade. Das wird auf die Dauer auch langweilig. Es ist für uns Reiter und auch für die Zuschauer doch viel spannender, ganz unterschiedliche Parcours, unterschiedliche Hindernisse in unterschiedlicher Umgebung zu haben. Mehr Abwechslung hilft am Ende auch uns Reitern und den Pferden, noch besser zu werden“, findet Guerdat.
Allerdings weiß der Olympiasieger von London 2012 von seinen Kollegen auch, dass viele zu viel Abwechslung gar nicht mögen und wollen: “Ich weiß nicht, ob sie Angst vor Neuem haben. Da müssten die Reiter auch schon mal ihre Komfort-Zone verlassen.“ Am Ende sei es doch genau das, worum es in diesem Sport gehe. Mutige Reiter und Pferde zu haben, die über jedes Hindernis springen.
Das Problem, so Guerdat, fängt heute schon bei den nationalen Turnieren an. Veranstalter können die tollsten Turniere mit besten Bedingungen auf dem Rasen abhalten. Wenn zeitgleich allerdings ein Turnier auf einem kleinen Sandplatz in der Nähe ist, hat das Rasen-Turnier kaum noch Starter, weil viele Reiter meinen, auf Sand springt es sich am besten.
„Ich habe sogar Kollegen, die sagen, ihr Pferd müsse sich erst an einen Rasenplatz gewöhnen. Dabei ist Rasen für Pferde doch das Natürlichste von der Welt, es müsste also genau umgekehrt sein, das Pferd muss sich an den Sandplatz gewöhnen.“ Sowieso findet Guerdat, dass Pferde immer noch Pferde bleiben müssen, sie nicht vermenschlicht werden dürfen, sie nicht ‚ins Bett mit Heizdecke“ geschickt werden sollten. „Das Pferd ist und bleibt ein Tier, und es bleibt gesünder, wenn wir es auch wie eines behandeln.“ Der Schweizer baut zu Hause in Elgg im Training auch immer mal Naturhindernisse ein. „Viele Kollegen fragen mich dann und zeigen sich interessiert. Aber selber machen sie es dann doch nicht. Ich glaube, natürlicher Untergrund zum Springen ist am Ende doch gesünder für die Pferde.“ Er fände ein Umdenken in diese Richtung zurück zur Natur gut, auch zu mehr Abwechslung.
Und wie geht er mit Niederlange um, oder Phasen in denen es nicht so läuft? Woraus zieht er seine mentale Stärke?
„Ich gebe einfach nicht auf. Bei den Europameisterschaften in Riesenbeck, obwohl wir dort eine Gold-Medaille mit der Mannschaft gewannen, lief es für mich in der Einzelwertung nicht so nach Plan. Dann ist die Heimreise natürlich schwer, der Weg lang. Aber sowie ich zu Hause bin, am nächsten Morgen in den Stall zu meinen Pferden gehe, dann geht es mir wieder gut und ich fühle mich privilegiert, dass ich diesen Sport machen kann und darf. Und dann kommt das nächste Turnier und die Welt sieht schon wieder ganz anders aus. Man kann in diesem Sport nichts erzwingen, und das ist mit Pferden auch keine gute Idee. Ich vertraue einfach auf meine Energie, meinen Ehrgeiz, vertraue darauf, was in der Vergangenheit gut gelaufen ist. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Besinne mich darauf, was ich kann. Ich konzentriere mich auf die Pferde, sie haben meine Haupt-Aufmerksamkeit.“
Eine große Herausforderung ist es bei den vielen Turnier-Highlights in diesem Jahr von den Olympischen Spielen in Tokio über die EM in Riesenbeck bis Calgary und Aachen, die Pferde und sich auf den Punkt fit zu halten. Guerdat setzt seine Pferde und Kraft daher sehr gezielt ein. So hatte er z.B. in Calgary nur ein Pferd am Start, ging nur zwei Prüfungen. In seinem Focus steht immer das eine Hauptspringen, meist der Grand Prix.
„Ich bin zwar auf allen Turnieren, gehe aber bei weitem nicht bei allen Prüfungen an den Start. Deshalb sind meine Pferde auch noch frisch. Und wir hatten natürlich auch letztes Jahr durch Corona kaum Shows.“
Im Rolex Grand Prix am Sonntag in Aachen setzt Guerdat, genau wie in Calgary, auf Venard de Cerisy. „Das war eigentlich so nicht geplant“, verrät Guerdat. „Aber Venard hat sich in Calgary so gut und frisch angefühlt, dass ich mich kurzfristig dafür entschieden habe, ihn auch hier zu reiten. Er hat so viel Energie, Kraft und Ausdauer, da muss ich mir keine Sorgen machen, dass er müde ist.“ Zugute kommt Guerdat auch, dass Venard gerne auf Reisen geht, sie ihm keine Strapazen bereiten. Nach dem GP in Aachen bekommt der Selle Francais Wallach allerdings die verdiente Pause.
Die gibt es für den Reiter nicht. Ob er am Morgen nach dem Aufwachen immer gleich weiß, wo er ist, in welchem Land, in welcher Stadt, wollen wir wissen. Steve Guerdat lacht. „Ja, klar, und ich fühle mich gesegnet, das machen zu dürfen, was ich liebe.“ Einen kleinen Wehmutstropfen gibt es bei der vielen Reiserei aber trotzdem. Seit April ist der 39-Jährige Vater einer kleinen Tochter. „Ich habe jetzt ja meine eigene kleine Familie und die vermisse ich natürlich sehr. Ich hoffe, ich kann sie bald wieder in die Arme schließen.“
Und wie steht er dazu, dass der FEI Präsident Ingmar de Vos nach viel Kritik und unschönen Bildern in Tokio angekündigt hat, das neue Olympia-Format ohne Streichergebnis zu überdenken? „Wir Reiter können sicher immer offen unsere Kritik äußern, aber leider habe ich Sorge, dass unser Einfluss und unsere Mitsprache am Ende nicht so groß sind. Wir müssen natürlich alle Standpunkte anhören, dürfen uns nicht nur um uns selber drehen. Politik gehört ja auch dazu, wenn man das große ganze Bild betrachtet. Aber wir haben natürlich alle das gleiche Ziel, den besten Sport zu präsentieren, ihn noch besser zu machen. Ich weiß, dass man uns Reitern zuhört, aber es wäre schon gut, wenn man uns noch mehr in wichtige Entscheidungen einbeziehen würde, als das bisher der Fall war.“
Den Wegfall des Streichergebnisses in der Team-Wertung sieht Guerdat sehr kritisch: „Das Drama mit Penelope Leprevost wünscht man niemandem. Es ist vorher bei Olympia auch noch nie passiert, dass sechs Teams raus aus der Entscheidung waren, bevor der letzte Reiter überhaupt im Parcours war. Wenn ich über mich spreche, ich hatte in der Einzelwertung in Tokio einen Abwurf und war damit raus. Das ist zwar hart, aber so ist der Sport. Andere waren an diesem Tag einfach besser als ich. Anders war es in der Mannschaftswertung: Ich hätte sechs Abwürfe haben können, und wir wären immer noch qualifiziert gewesen. Das ist nicht das, was wir Sportler wollen, was uns antreibt. Wir brauchen den Druck, wollen für unser Team kämpfen. Eine Trainingsrunde bei den Olympischen Spielen braucht niemand. Und dann am nächsten Tag hatten wir nach zwei Reitern 24 Fehlerpunkte. Ich bin also als Letzter für nichts geritten. Ich konnte das Ergebnis meines Teams mit meinem Ritt nicht mehr beeinflussen. Das möchte ich aber natürlich als Team-Reiter. Daher finde ich die neue Regel mit drei Reitern nicht gut.“
Doch um etwas im System zu ändern, wäre es auch wichtig, dass alle Reiter bei wichtigen Entscheidungen an einem Strang ziehen. „Viele, nicht alle meiner Kollegen äußerten sich zuerst kritisch, aber wenn es darum geht, eine Unterschrift zu leisten oder den Mund etwas weiter auf zu machen, werden sie plötzlich ganz schweigsam.“
Guerdat konzentriert sich jetzt erst einmal auf den Rolex Grand Prix morgen in Aachen. Ob er ein bestimmtes Ritual hat: „Nein, früher war ich sehr abergläubisch. Habe immer die gleichen Klamotten getragen, die Abläufe immer gleich gemacht. Aber irgendwann habe ich dann gemerkt, dass das Quatsch ist. Du musst einfach gut reiten, ein gutes Pferd haben. Das ist alles.“