Exklusiv-Interview: „Ich war mir einfach zu sicher!“ André Thieme über Lehrstunden, Demut und Dressur-Nachhilfe mit Chakaria bei seinem Vater. 

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Es gibt Momente, da haben sich auch die besten Reiter der Welt festgefahren, stecken in einer Sackgasse, brauchen einen Impuls von außen und manchmal auch einen lauten Weckruf. So einen Moment hat André Thieme gerade erlebt. Nach einer längeren Verletzungspause von DSP Chakaria (v. Chap) wollten sich die Europameister von 2021 mit einem Ausrufezeichen auf der großen internationalen Bühne beim Nationenpreis in Ocala zurückmelden. Anfang des Jahres war Thieme zu seiner jährlichen Tour in die USA aufgebrochen. Und alles schien bilderbuchmäßig zu laufen, doch dann endete DSP Chakarias Comeback ganz anders als geplant. 

Selbstkritisch erinnert sich André Thieme im Gespräch mit spring-reiter.de: „Chakaria war ja verletzt vor Mailand, deshalb konnten wir die Europameisterschaft nicht reiten. Wir haben lange Pause gemacht. Sie war nie lahm, das war eine reine Vorsichtsmaßnahme, um alles richtig auszukurieren.“ Dann ging es in die USA, und „Ocala war eigentlich ein erfolgreicher Trip für mich. Wir haben drei große Preise gewonnen. Bei Chakaria war von Anfang an der außergewöhnliche Sprung, den sie hat, wieder da. Sie war jedes einzelne Springen Null. Wir haben vier Turniere geritten vor dem Nationenpreis in Ocala. Die Zielsetzung war, wenn alles sehr gut läuft, den Nationenpreis in Ocala bestreiten zu können.“ 

„Wir hatten vor dem Nationenpreis nur noch die Möglichkeit, ein 4 * Sterne Springen zu reiten. Da lief sie in der Qualifikation fehlerfrei und dann im Großen Preis Doppel-Null unter Flutlicht. Sie war die Schnellste im Stechen und hat diesen 4-Sterne-Großen Preis nach der Verletzung auf Anhieb gewonnen. Da waren wir auf Wolke sieben. Und alles schien perfekt. Ich habe nur gedacht, besser kann es ja für mich hier nicht laufen. Ich war mir einfach zu sicher. Ich habe mich etwas drauf ausgeruht, dass mein Pferd topfit ist. Was sollte da jetzt nicht klappen?“

Aber gerade im Springsport wird der, der sich zu sicher fühlt, schnell einmal bestraft. Er ritt Mittwoch ein kleines Springen, machte dann drei Tage Pause vor dem Nationenpreis, ritt nur so „Larifari Dressur“ mit Chakaria, „nicht so richtig konsequent und diese Kleinigkeiten machen es dann aus auf dem Niveau. So war mein Pferd am Ende zwar super frisch, ausgeruht, gesund und wollte wahnsinnig gut springen. Aber so ein erfahrenes Pferd merkt es dann natürlich auch, wenn die Hindernisse plötzlich noch einen Zacken höher sind, die Atmosphäre einfach krasser ist, weil es ein Nationenpreis ist. Wenn die Mannschaft das Ergebnis braucht und auf einen zählt, dann ist da ein ganz anderer Druck dahinter. Dann verlief die erste Runde für uns so unglücklich, ich merkte, dass sie spannig ist. Ich reite sie ja nur mit normaler Wassertrense, aber sie war nicht locker und ich habe es nicht hingekriegt, Ruhe rein zu bringen und Ruhe auszustrahlen. Das war alles etwas wild. Auch weil mein Pferd einfach nicht genug dressurmäßig vorbereitet war, um an dem Tag eine entspannte Runde zu gehen“, erzählt Thieme selbstkritisch. 

Nach der ersten Runde und einem Abwurf für Thieme und die 14-jährige DSP-Stute, entschied Bundestrainer Otto Becker, dass André nicht zu den drei deutschen Reitern gehört, die im Nationenpreis nach dem neuen Reglement in Runde zwei starten dürfen. „Das war natürlich eine bittere Pille für mich, weil ich ja auch allen zeigen wollte, wie gut mein Pferd wieder drauf ist und wie gesund sie wieder ist.“

Aber auf die Enttäuschung folgte der, wie er es selbst nennt, „Glückstreffer, dass mein Vater, mein alter Dressur-Trainer, dabei war und alles live gesehen hat. Er hat mir nach dieser Runde klar gesagt, dass ihm schon seit langer Zeit aufgefallen sei, dass das Pferd nicht richtig geradegestellt ist. Dass sie zu sehr anhakt am Gebiss und da nicht genug Ruhe drin ist. Und dann hat er mich tatsächlich wie früher gezwungen, Montag, Dienstag, direkt nach dem Turnier, ein paar Dressur-Einheiten mit ihm zu machen. Ich wollte das natürlich abtun: Chakaria dürfe man gar nicht zu klassisch reiten. Aber mein Vater hat mir ganz klar zu verstehen gegeben, dass das jetzt genau der Punkt ist, konsequent an das Problem ranzugehen und viel konsequenter Dressur zu reiten. Dann hat es keine 10 Minuten gedauert, da hat er mich mehr oder weniger gezwungen, den Schlaufzügel abzunehmen. Ich sollte sie nicht so sehr durchs Genick nehmen und sie lieber mal oben dran lassen: Lass uns mal die Anlehnung zurückstellen und lieber mehr ran ans Bein, bieg sie einfach mal ein bisschen nach links und nicht immer nur nach rechts, weil sie lieber nach rechts gestellt geht. Dann sind wir ganz konsequent mit Außengalopp und Bein ran geritten.“ Andre`s Vater, Michael Thieme, selbst hoch erfolgreich im Sattel, ehemaliger Leiter der Landes- Reit- und Fahrschule und Landestrainer Dressur in Mecklenburg Vorpommern, ist ebenfalls noch auf den Turnieren aktiv.

Es folgte das, was man einen Aha-Effekt nennt: „Tatsächlich, ich wollte es gar nicht wahrhaben, nach 20-30 Minuten merkte ich, dass Chakaria mit einmal so stabil in der Anlehnung war. Schon die erste Stunde am Montag hat mir bewusstgemacht, dass er Recht hatte. Und dass es höchste Zeit war, dass ich aufhöre, mich auf den ganzen schönen Erfolgen auszuruhen und stattdessen wieder konsequenter an das Problem rangehe. Am zweiten Tag hat er das Training dann nur noch aus der Ferne beobachtet, weil ich natürlich auch selber genug eigenen Ehrgeiz habe, das so umzusetzen.“ 

Aufs Aha-Erlebnis folgte der weitere Aufbau: „Mein Vater ließ uns in Konterstellung im Außengalopp reiten, also im Außengalopp rechts, das Pferd nach links gestellt und dann auch noch versuchen, den rechten Hintern so ein bisschen rein zu drücken, sodass wir im Außengalopp rechts versucht haben, eine Linksstellung des Pferdes her zu stellen. Wenn man das macht mit Pferden, die das nicht kennen, dann hat man das Gefühl, die brechen sich die Beine. Weil es eigentlich gar nicht geht. Aber für das Problem dieses Pferdes war das genau der Punkt, um zu verhindern, dass sie einfach immer wieder über die Schulter ausbricht nach links. Über diese Übungen bilden sich die Muskeln, jetzt ist sie kerzengerade und alles ist so viel besser geworden.“

Bei Horses & Dreams in Hagen bestätigte sich André Thiemes Gefühl, dass diese Dressur-Übungen auch für den Parcours „richtig was gebracht haben. Deswegen war ich nach der ersten Null-Fehler-Runde in Hagen so glücklich, weil es nach drei Wochen das erste Turnier wieder war und ich wusste, mein Pferd ist super drauf.“

Dank Vaters konsequenter Dressurausbildung hatte ja schon der junge André Thieme es auch in der Dressur bis zur schweren Klasse gebracht. Und er ist seitdem „ein absoluter Fan von Außengalopp, ganz klassisch, nicht unbedingt so schwierig, wie ich es erklärt habe. Außengalopp ist die Übung überhaupt, weil man damit so unglaublich den Galopp eines Pferdes verbessert. Weil die dadurch so viel Balance kriegen. Und weil man durch den Außengalopp eigentlich erst so richtig mit dem Bein ans Pferd kommt. Man muss treiben, damit das Pferd den Galopp hält, und so kommt man mit dem inneren und dem äußeren Bein an das Pferd heran. Und wenn man von hinten ordentlich heran kann, kommt als nächster Schritt auch automatisch die Anlehnung. Das ist wie in der Skala der Ausbildung. Der große Fehler, den die meisten machen, ist der, dass sie erst versuchen, vorne sich die Anlehnung durchs Genick zu holen. Aber alles muss erst einmal mit Schwung und Takt vorwärts und mit Losgelassenheit gehen, bevor überhaupt die Anlehnung kommt. In einer sehr kleinen Halle darf man Außengalopp natürlich nicht zu intensiv reiten, weil das dann irgendwann auch an die Gesundheit des Pferdes geht. Aber wenn man einen schön großen Reitplatz hat, dann ist Außengalopp für mich die beste Übung. Er macht einfach jedes Pferd stabiler.“

Das Augen-Öffnen durch seinen Vater, die Rückbesinnung auf sein eigenes Wissen war für André Thieme nach seinen eigenen Worten „höchste Zeit“. Vielleicht kam der Nationenpreis in Ocala zu früh für Chakaria und sie hätte vorher noch ein, zwei größere Turniere gehen müssen. Aber, so sieht es der Reiter jetzt, „wer weiß, wozu es gut war, dadurch ist die Sache aufgeflogen. Ich habe so gemerkt, dass da Dinge nicht optimal sind. Nur so erkennt man am Ende dann auch den Ernst der Lage und dass man was ändern muss. Dass man doch wieder alles viel konsequenter machen muss. Und nur sich darauf auszuruhen, dass man eins der besten Pferde der Welt hat, ist nicht genug auf dem Level. Du musst immer wieder 100 Prozent geben. Ich bin inzwischen fast dankbar, dass es so gelaufen ist, weil sich jetzt sehr viel verbessert hat.“ 

Nach Hagen stehen Hamburg und der Nationenpreis in St. Gallen in seinem Kalender. „Dann werden wir mal gucken, wo wir wirklich stehen. Von Olympia in Paris träumen darf jeder und ich habe mit diesem Pferd ja auch schon einiges bewiesen, zu viele Pferde haben wir in Deutschland nicht von dieser Qualität. Wenn ich jetzt denken würde, ich hätte keine Chance, dann wäre ich auch fehl am Platz. Ich nehme die Herausforderung an und bilde mir auch ein, dass wir da hingehören. Das ist mein Ansporn, mein Ziel und ich verzichte dafür auf alles andere. Für mich zählt nur das. Ich habe schon vor 2 Jahren angefangen, vieles wegzulassen, um dann fit zu sein für dieses große Event. Weil ich unbedingt noch mal zu den Olympischen Spielen möchte.“

Die Ausgangslage für André Thieme und DSP Chakaria ist klar: „Ich muss liefern, am Ende zählen Null-Runden. Die muss ich liefern, am besten mehr Null-Runden als die anderen, dann sind wir auch mit dabei.“ Chakaria wird nicht in Watte gepackt, sondern „kommt jeden Tag auf die Koppel, so viel Bewegung wie möglich“. Und ansonsten heißt es, „erst mal reiten, auf vielen Turnieren und über viele Runden“.  Damit der Traum von den Olympischen Spielen in Paris in diesem Sommer auch wahr wird.

INTERVIEW: CORINNA PHILIPPS